A moi seule – Berlinale- Rezension

Ein junges Mädchen steigt aus einem Kellerverschlag, der mitten in eine kleinbürgerliche Wohnung mündet und fragt eine nicht sichtbare Person genervt: Musstest du wieder länger arbeiten?

Sie sieht gut gewaschen und gepflegt aus, alles wirkt, als sei sie die pubertierende Tochter, doch etwas irritiert, etwas wirkt fremd, etwas wirkt, als sei sie nur auf Besuch, aber das unfreiwillig. Selbstverständlich bewegt sie sich zwischen Wohnzimmer und Küche, der Mann, der nun sichtbar wird, den man vorher mit blauem Auge auf seiner Arbeit sah, schaut sie nachdenklich an, hinter ihm eine offene Tür, auf die ihr Blick fällt, sie läuft drauf zu, dreht sich noch mal ungläubig um und rast raus, durch einen Wald, über ein Straße, bis zu einem Bushäuschen, wo sie atemlos und unschlüssig sitzen bleibt, an der Wand ein vergilbter Suchzettel mit einem Kindergesicht. Der Film beginnt mit ihrer Flucht und erzählt die Geschichte in Rückblende. Man sieht nun ein kleines Mädchen mit dem gleichen Mann, das sich wehrt, strampelt, beißt, wie er sie anbrüllt, schlägt, in den Verschlag sperrt und damit droht, sie „wieder“ zwei Tage dort zu lassen. Dann zeigt der Film, wie sich beide langsam in einem Alltag zurechtfinden, sie zwangsweise, er in einen, den er sich „gemacht“ hat, wie sie zusammen essen, sie ihm eine Einkaufsliste diktiert, er mit ihr Schreiben und Rechnen übt, sie immer auf dem Sprung, immer in Habacht-Stellung, immer mit ausgefahrenen Stacheln, in Erwartung eines Angriffs, einer Drohung, eines plötzlichen Stimmungsumschwungs des offensichtlich gestörten Mannes. Sie taktiert daher, versucht, das Beste für sich herauszuholen, sie gibt sich nicht auf, sie wartet.

Das Warten wird zum Dauerzustand

Worauf wartet sie? Sie wartet auf die Schritte über ihrem Kopf, sie wartet, dass die Zeit umgeht, sie wartet, dass sie größer und stärker wird, sie wartet, dass vielleicht jemand sie findet. Sie wartet immer, das Warten wird ihr zum Dauerzustand ständiger Konzentration auf die Zeit. Die eindrucksvollsten Sequenzen des Films sind die Wartezeiten, das Mädchen liest, kämmt sich, wäscht sich, sitzt da, wartet, sie wartet endlos und das Schmerzhafte des Wartens wird gut getroffen. Wieviele Kinder warten heute bei ihren doppelt und dreifach ausgebeuteten Eltern in ähnlicher Weise ständig auf ihr Nachhausekommen, hat das irgendwer im Blick? Hier kann man es nachfühlen lernen.

Es ist etwas Bekanntes, jeder hat das erlebt und es breitet sich zunehmend als Kindererfahrung aus, nicht nur, wenn man es in einem Keller eingesperrt erleiden muss, das gilt auch für Wohnsilos, Kindergärten mit Massenabfertigung oder Kleinfamilien, wo Kinder sich eingesperrt sehen und darauf warten, dass sich etwas verändert, dass einer kommt, der sie liebt, einer kommt, der sie rausholt, einer kommt, der ihnen die Freiheit gibt, sich zu entfalten.

Ihr Körper ist ein Starrgerüst der Angstabwehr

Die Protagonistin in diesem Fall scheint ihre Eltern vergessen zu haben, sie ist fixiert auf ihre Zwangsbezugsperson, sie stellt sich vor, wenn sie unten im Keller liegt, dass sie keiner je findet, falls ihm was passiert, sie muss ständig horchen, ob er kommt, sein Poltern oben ist ihr jedesmal Erleichterung, da er nun den Riegel aufschiebt und sie hoch lässt, aber auch Angst entsteht da sofort, denn nun muss sie mit ihm umgehen und sich dafür rüsten. Deutlich wird gemacht: Sie kennt nur Angst, diese und jene, und ihr Körper ist ein Starrgerüst der Angstabwehr geworden. Das Warten wird besonders peinigend in den Zeiten, wo er eigentlich Nachhause kommen müsste, sich aber verspätet, ihr Blick, auf ihrem Bett sitzend, wandert ständig nach oben zur verschlossenen Luke. Auch er steht unter Druck, wird vermutet, ob es wahr ist, weiß man nicht, hier will er rechtzeitig zu ihr kommen und sie sind eine Art Schicksalsgemeinschaft geworden, zusammengehalten durch die Gewalt seines Entschlusses, sie jeden Tag einzusperren. Sie hasst ihn, er kann nicht mehr ohne sie, seine Gefühle sind immer gewaltgemischt, man hört hinter seinen Beschimpfungen seine eigene Kindheit, er copiert, was man ihm angetan hat, Bestrafungen, Drohungen, doch wandelt es ab in ein Sozialverhältnis, das er auf diese Weise für sich wahnhaft geschaffen hat und woran er gewalttätig festhält.

Um das Sexuelle wird ein großer Bogen gemacht

Merkwürdig daran wirkt die Gesundheit des Mädchens, ihre Stabilität, auch wenn sie in der Rahmenhandlung, wo sie frei ist, zunehmend erstarrt, aber doch kraftvoll wirkt, nicht gebrochen ist. Der Regisseur hat sich auf ein Glatteis gewagt, denn kann man wirklich darstellen, was Verena Kampusch und andere, die gewaltsam eingesperrt werden, über Jahre erlitten haben? Ich fürchte nicht, denn nur die Momente des Films wirken nachvollziehbar, die Dinge zeigen, die man aus eigenem Erleben kennt. Alles andere gerät schnell in das Fahrwassser, dass alles nicht so schlimm gewesen sei. Auch wird um das Sexuelle ein großer Bogen gemacht. Doch braucht es Vergewaltigung, braucht es eine Sexualstraftat? Darunter scheinen es die geifernden Massen nicht zu machen, wie die Groschenjournaille lechzt, wenn sie suggeriert, dass Verena Kampusch es doch gar nicht so schlecht hatte bei ihrem Peiniger. Vielleicht wollte dieser mann “nur” eine emotionale Ausbeutung, vielleicht wollte der Regisseur Verena Kampuschs Leiden nicht voyeuristisch zeigen.

Alles verloren

Im Film gelingt deutlich zu machen, dass das Mädchen am Ende alles verloren hat, ihre Eltern sind schwerstgestört, durch sie kann sie nicht die geringste Kraft bekommen, der Mann, an den sie zwangsgebunden war, ihre ganze Jugend hindurch, ist tot, wie soll sie je die Angst im Umgang mit Menschen verlieren? Der Ausblick ist jedoch positiv, sie beginnt ein neues Leben, als sie von seinem Tod hört. Der Film ist sehenswert, birgt aber auch Rätsel und ist  streckenweise ein wenig langatmig, was gewollt sein kann.

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