Aldilidllidlaldi – In Hamburg wird »Marat« gegeben. Mit Gesichtern, die kein Schauspieler zeigen könnte – Rezension

17.12.2009 / junge welt/ Feuilleton / Seite 13

Marat in HamburgVor den roten Vorhang des Hamburger Schauspielhauses treten Gestalten neuzeitlicher Wohlstandsarmut. Sie stellen das Volk dar im Stück »Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?« von Volker Lösch und Beate Seidel. Ihre Gesichter sind grau und eingefallen, ihre Körper dünn, ausgemergelt oder aufgedunsen, es gibt große Bären, die wie Fußballfans aussehen, es gibt rotgesichtige, ihre Gesichter sind mit Falten übersäht, kleinere, sie essen bei der Tafel, haben Lücken in den Zahnreihen. Man sieht es ihnen an, daß sie nicht zum Theaterensemble gehören. Und man hört es bei ihrem Sprechgesang. Mit Gesichtern, die kein Schauspieler zeigen könnte, weil er viel zu sehr im Wohlstand groß geworden ist, rufen sie im Sprechchor dem Publikum ihre Biographien zu. Zunächst alle gleichzeitig, dann tritt am Ende einer von ihnen vor, alles wird still, und er allein beendet die Sätze seines Lebens.

Gewaltopfer, in Sucht gefallen, Mutter gepflegt

Das Publikum verharrt. Sonst liest man davon höchstens in der Zeitung, hier kommt es einem von der Bühne herab entgegen. Es werden die unterschiedlichsten Biographien herausgewürgt, wir kennen sie alle, es sind die nur wenig, aber schon genügend Gescheiterten: Hartz IV, Lebenskünstler, abgebrochene Akademiker, kleine Handwerker, Menschen, die Unglück hatten, ihre Mutter gepflegt haben über Jahre, Gewaltopfer waren, in Sucht gefallen sind. Alles Dinge, die uns nur aus Zufall nicht auch so passiert sind, wir selbst kamen eben noch davon. Dies ist eine Armut, die sich in Lebensgewohnheiten zeigt. Eher fassen sie den Tod ins Auge als das Leben. Kein Fortkommen, kein Aufstieg, kleine Betrügereien, keinen Strom zahlen, abklemmen, falsche Adressen angeben, Schulden machen, unbekannt verziehen… Tricks, die das Leben aushaltbarer machen, sich etwas wiederholen, was sowieso uns gehört.

Restrisiko

Es sind die Überflüssigen, die da vor dem roten Vorhang deklamieren, die, die einkalkuliert sind, eine Art Restrisiko im Kapitalismus. Menschen, die nicht mitmachen, nicht arbeiten wollen, können, sollen, kaputt gehen.
Kurz treten Marat und seine Freunde in historischen Kostümen auf und spielen Politiker, die auf den Bühnen der Welt ihre kämpferischen Reden halten, dann sieht man Marat als Kranken in der Badewanne, gepflegt von einem versoffenen Marquis de Sade, der sich in Gewaltphantasien ergeht und ihm den Rücken wäscht. Im Hintergrund die Menschen des Chores nun in Soldatenjacken und schwarzen Mützen, wie sie sich gegen die drei Wände eines riesigen aufgeblasenen Aldilidl-Raumes in Art einer Hüpfburg-Gummizelle werfen. Sie prallen davon ab wie Pingpongbälle. Marat klagt, krank an Körper und Seele über die verlorene Revolution und was man hätte besser machen sollen. »Wir haben zu wenige umgebracht.« Marquis de ­Sade lacht. Mit welchen Menschen denn Marat seine Revolution wohl zu machen gedenke? Sie seien alle gleichermaßen dumm und gewaltverliebt. Und dann fängt er an, seinen eigenen Eiter zu trinken. Das Publikum, eben noch schweigsam, stöhnt hörbar auf wie bei einem Gruselfilm.

Die Namen der Reichsten

Der Leiter der Irrenanstalt übt sich in der Moderne und tritt als Mercedes-Animateur auf, verbreitet gewollten Coaching-Optimismus, läßt die Armen im Kreis hüpfen und Übungen machen, alles wird gut. Doch irgendwann gibt es immer einen, der zum revolutionären Sprachrohr wird, die Wahrheit erkennt, aufwiegelt. Dieser eine bleibt unscheinbar, es ist nicht Marat, einer von den Armen ist es. Marat hingegen wird umgebracht, wie es das Stück fordert. Und am Ende treten die Armen noch mal nach vorn, brüllen die Namen der reichsten Familien Hamburgs mit Adressen und Vermögensumfang ins Publikum. Etliche haben per Gerichtsbeschluß verboten, ihre Namen zu nennen, trotzdem, das Vermögen wird genannt, da bleibt was hängen.
Nun spätestens sollte man wohl aufstehen und unmittelbar zur Elb­chaussee gehen, um mindestens zu demonstrieren. Jetzt könnte es geschehen. Aber das Publikum ist sittsam, es beherrscht sich.

Nächste Vorstellungen: 22.12., 28.1.2010

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