Das Nacktschneckengame im Grips Theater. – Rezension

Das Nacktschneckengame im Grips-Theater

Siebte Klasse, Sexualkundeunterricht. Aber nicht für alle: Selma (Katja Hiller) und Anni (Lisa Klabunde) haben sich mit Edgar (Marius Lamprecht) und Junis (Jens Mondalski) auf die Toilette verdrückt, sie meinen, sie wüssten schon alles bzw. wollen lieber praktisch werden.

Allerdings wissen sie noch nicht so genau, worauf sie Lust haben. Ihre Kenntnisse sind lückenhaft und von gesellschaftlichen Erwartungen überfrachtet. Dann, auf einmal, driften die vier ab in eine magische Welt und landen, klein wie Ameisen, im Innern einer Nacktschnecke. Die Bühne von »Das Nacktschnecken-Game« ist nun eine grüne Traumlandschaft, mit schwingenden Teilen, die ausschauen wie Nervenbahnen im Unterhautgewebe.

Eine klebrige Substanz?

Die zwei Pärchen  – Junis und Ani, Selma und Edgar –  quälen sich seltsam unwirklich durch eine klebrig wirkende Substanz, erst langsam kommen sie wieder hoch und zu Bewusstsein und ekeln sich fürchterlich. Eine Stimme aus dem Off verkündet, wie im Märchen, Aufgaben. Sie sollen die Nacktschnecke von innen erforschen und sie dazu bringen, dass sie sich mit einer anderen Schnecke paart. Dann erst kämen sie frei.

Selma schreit, die anderen erstarren. »Wie viele Leben haben wir?« fragt Edgar. Das Publikum lacht, die Kurve ist genommen – ein mit Symbolen aufgeladenes, gleichwohl witziges Spiel, ein Ausflug ins Unbewusste und zu den unterhalb normaler Aufklärung liegenden, wirklich relevanten Fragen zur Sexualität.

Angstvoller Ekel vor dem weiblichen Geschlecht?

»Mädchen ekeln sich wohl weniger, weil sie selbst so viel Ekliges an sich haben?« fragt Junis Anni, die zwar entgeistert guckt, sich aber klug und selbstbewusst zu wehren versteht. Junius spricht allerdings ein für sexuelle Beziehungen zwischen Mann und Frau typisches Problem an – das des männlichen, oft angstvollen Ekels vor dem weiblichen Geschlecht. Mit all seinen Falten und der Feuchtigkeit erinnert die Vulva Männer an eine Wunde, in zahllosen Religionen gilt die Frau deshalb als unrein.

Die Begehren und Liebe noch nie erlebt haben

Der Mensch ekelt sich nicht nur vor Ausscheidungen und Körperöffnungen eines Fremden, sondern auch vor der Haut des anderen. Den Finger eines Fremden könnten wir nicht in den Mund nehmen, ohne uns zu ekeln, schrieb Thomas Mann. Die Liebe, so Mann, überwinde die Ekelschranke, die wir voreinander aufgebaut haben. Aber eben nicht zwingend. Viele Partner ekeln sich voreinander, vor allem in Zeiten flüchtiger Sexualkontakte. Und Jugendliche, die Begehren und Liebe noch nie erlebt haben, stellen sich die Angelegenheit häufig furchtbar eklig vor.

Weshalb für ein Stück über sich erst langsam anbahnende körperliche Annäherung unter Jugendlichen ausgerechnet die Nacktschnecke als Symbol gewählt wurde, liegt also auf der Hand: Sie ist klebrig-eklig.

Skurrile und witzige Phantasie, nie Lehrveranstaltung

Wie sich die beiden Paare zurechtfinden, ihre Aufgaben zu lösen beginnen, wie sie dabei ins Gespräch kommen oder zu einem ersten Kuss, und es dabei die ganze Zeit um Aufklärung geht, man aber nie an eine wissenschaftliche Lehrveranstaltung denken muss – das hat was. Und ist der so skurrilen wie witzigen Phantasie geschuldet, mit der »Das Nacktschnecken-Game« von Regisseurin Maria Lilith Umbach inszeniert wurde.  Das gleichnamige Stück schrieb die Autorin und Kolumnistin Kirsten Fuchs.

Bis du nicht mehr aufstehen kannst

Sex als Gewaltandrohung: Die Jungen sollen 100 verschiedene Begriffe für Geschlechtsorgane aufschreiben. Toilettenzeichnungen fallen ihnen ein, die Begriffe sind sexistisch, brutal, es sind abfällig Bemerkungen über Frauen: »Ich fick dich, bis du nicht mehr aufstehen kannst!« Gewalt durch Sex? Das Gesetz, nach dem sich dies entwickelt, geht so: Ekel, der die weibliche Vulva besetzt, fördert Angst, Angst wird durch Gewalt abgewehrt, Gewalt verhindert Liebe und Genuss.

Noch immer nicht überwunden

So erklärt das Stück ganz nebenbei, weshalb Sexualität so oft mit Gewalt vermischt wird? Die weibliche Vulva wird dann nur noch als ein zu durchbohrendes Etwas betrachtet, der Penis als ein Gewaltorgan, liebevolle Sexualität so bereits im Ansatz verhindert. Das alte Bild von der Sexualität als etwas Schmutzigem ist immer noch nicht überwunden.

Sexualität anders sehen

Eine kluge symbolische, so witzige wie wichtige Reise ins Unbewusste im Gewand eines PC-Games ist dem Grips-Theater hier durchaus gelungen. Vielleicht erleichtert es Jungen und Mädchen (ab zwölf), besser mit Gefühlen wie Angst und Ekel umzugehen, Hemmungen abzulegen, Sexualität anders zu sehen. Damit wäre auf jeden Fall etwas gewonnen. Eine echte Befreiung. Nicht zu mehr Verwertbarkeit weiblicher Körperöffnungen in Sex-Kauf-Akten oder Flatrate-Bordells, sondern zu mehr Behutsamkeit, Liebe und Zärtlichkeit in der körperlichen Lust.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert