Jette und Frieder im Grips-Theater

Wo wären wir in 150 Jahren, wenn wir heute ein freies Wohnrecht für alle forderten? Im neuen Stück des Berliner Grips-Theaters geht’s um das Jahr 1848

Die deutschen Panzer haben die Portugiesen zerquetscht« titelten Zeitungen in dieser Woche, und priesen »die Art und Weise, mit der die Deutschen die Portugiesen zerlegt« und »Ronaldo platt gemacht« hätten. Man habe »die Welt das Fürchten« gelehrt, hieß es. Und: »Wie üblich macht Deutschland allen Angst.« Zur Fußball-WM kann sich der Nationalchauvinismus schon wieder mächtig austoben. In der Politik ist es noch nicht ganz so opportun, vom Zerquetschen des Gegners zu sprechen. Aber Selbstüberhebung und Größenwahn werden dem Volk in seiner Misere wieder als Entfaltungsmöglichkeiten hingeworfen.

Gegenentwurf namens Haltung

Einen Gegenentwurf namens Haltung bietet das am Dienstag uraufgeführte Stück des Berliner Grips-Theaters, »1848 – Die Geschichte von Jette und Frieder« (Regie: Frank Panhans). Die Vorlage ist ein gleichnamiger 500-Seiten-Roman von Klaus Kordon, der Geschehnisse von damals aus Sicht zweier Jugendlicher beschreibt. Thilo Reffert hat das Buch gekonnt zu einer zweistündigen Bühnenfassung verdichtet.

Jeden Tag drei Kartoffeln

Der Zimmermannsgeselle Frieder legt Jette, für die er schwärmt, jeden Tag drei Kartoffeln vor die Tür. Um diese aufzutreiben, jagt er mit anderen zunächst ungerichtet und noch ganz egoistisch plündernd durch die Straßen, wird aufgegriffen und für acht Monate eingebuchtet. Das beschleunigt seine Politisierung in diesen Wochen der Revolution, die hintertrieben werden wird; gleichwohl kommt es zu ungeheuren Akten von Solidarität und klassenübergreifenden Verbrüderungen. Frieder und Jette stellen sich Fragen, die aktuell wirken: Wieviel soll sich der Mensch »von oben« gefallen lassen? Wann ist Gegenwehr sinnvoll? Wie muß sie organisiert werden?

Kreidezeichnungen und Apfelsinenkisten

Rasend entwickelt sich das Bewusstsein der Figuren, genauso der Aufstand in den Straßen, dargestellt durch Kreidezeichnungen an einer schwarzen Wand und Apfelsinenkisten als Barrikaden. Später heißt es in einem Kommentar, die 1848er Revolution sei der Beginn der Linken gewesen, weshalb diese Geschichte ins Grips gehöre, das als linkes Theater die Verhältnisse ändern will. Einziger Unterschied zum Erwachsenentheater: Das Ende geht für die Hauptpersonen im Privaten gut aus, sie überleben. Das Stück ist ab 13 Jahren.

Um nicht den Eindruck einer trockenen Geschichtsdokumentation aufkommen zu lassen, werden die Szenen immer wieder durch heutige Einschübe unterbrochen, scheinbar zufällig, als erhöben die Schauspieler Einspruch gegen die Regie. Auch die Kostüme wirken heutig, Ausnahme ist der bürgerliche Hausbesitzer, ein kleingeistiger Lackaffe, wunderbar fies und witzig gespielt von Jens Modalski. Ältere Lieder, die Alessa Kordeck verzweifelt einem kleinen Kind vorsingt, verwandeln sich nach einigen Takten in wütende Rocksongs.

Gezeigt wird auch das obere Ende der Klassengesellschaft

Das Spiel wird von einer fröhlich-leichten Balladenhaftigkeit zu Beginn über eine spannungsvoll dahinjagende Dramatik immer stärker ins Ernste, Abstrakte, Heutige, Philosophische und Revolutionäre geführt. Ein wirklich modernes Lehrstück. Erkenntnisse werden initiiert und nachvollziehbar gemacht, immer aus dem Blickwinkel der Jugend. Gezeigt wird auch das obere Ende des Klassengesellschaft. Der aufgeblasene Sohn eines Majors ist erfüllt vom Dünkel der Eltern gegenüber dem Pöbel, dem Abschaum, und giert danach, das auszuleben.

Revolutionen sind möglich

Am Anfang sieht man auf dem Boden wie bei der Verkehrserziehung einen mit Kreide aufgemalten Plan der Stadtbezirke, in denen sich die Ereignisse abspielen. Dazu haben Theaterpädagogen ein Stadtspiel für Schulklassen entwickelt. So wird der lokale Bezug verstärkt. Revolutionen sind möglich, lautet die Botschaft, eine hat hier in Berlin stattgefunden. Jugendliche und Arme haben damals einen Sieg errungen, auch wenn Ziele verraten wurden und die meisten noch nicht erreicht sind. Eine Forderung der 48er aufgreifend, wird im Programmheft gefragt: »Wo wären wir wohl in 150 Jahren, wenn wir heute beginnen würden, ein freies Wohnrecht für alle zu fordern?« Revolutionäre Forderungen klingen am Anfang immer illusionär. Rackebrandt, ein alter Arbeiter, mit Kraft und in allen Einzelheiten perfekt gegeben von René Schubert: »Die Tyrannen werden kaum die Waffen niederlegen und ihre Macht abgeben wollen. Wir werden sie ihnen irgendwann nehmen müssen …«

Nächste Vorstellungen: 21.6., 19.30 Uhr, 19.9., 19.30 Uhr, 22.9., 18 Uhr, 23.9., 11 Uhr und weitere, siehe Programmvorschau

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