Mein Name ist Mensch – Rezension Tanztheater in Stralsund

Das perform(d)ance Theater in Stralsund hat zusammen mit dem Theater Vorpommern und einem international zusammengesetztem Team ein großes Projekt gestemmt: Etwas Grundsätzliches zum Thema Mensch, die Erinnerung daran, dass wir Menschen sind und das Nachdenken darüber, was das bedeutet. Tanzen, Ausdruckstaz, frei, selbst bestimmt. Mit über 100 Schülern eines achten Jahrgangs.

Stefan Hahn, (Gründer und künstlerisch-pädagogischer Leiter des Tanztheaters), der nach Selbstauskunft mit 16 beim Widerstand gegen die Startbahn West (hauptsächlich frühe 80er Jahre) durch die Musik von Ton Steine Scherben (hautsächlich frühe 70er Jahre) sozialisiert wurde, hat sich am Mittwoch in Stralsund dabei selbst übertroffen: Er hat für das Theater Vorpommern den alten Scherbensong »Mein Name ist Mensch« zum Thema gemacht und mit 100 Achtklässlern eines Gesamtschuljahrgangs mehrerer Schulen eine Tanz-Revue zur Geschichte des Menschen inszeniert – als eine Art Simon Rattle von links.

Wir haben einen Feind: Er hat viele Namen

Bei Hahn ist das ein fortlaufender Appell für Widerstand, Solidarität und Selbstermächtigung gegen Fremdbestimmung, Ausbeutung, Politik und Verbrechen. Das Stück beginnt mit den Zeilen: »Wir haben einen Feind. / Er lebt von unserer Arbeit / und er lebt von unserer Kraft. / Er hat zwei Augen / und er will nichts sehen / und er hat zwei Ohren / und er will nicht verstehen…er ist über 10000 Jahre alt / und er hat viele Namen!«
Dann öffnet sich der eiserne Vorhang und es wälzen sich weiße Bündel auf dem Boden, was den Eindruck erweckt, die Erde drehe sich wie eine Scheibe. Unter ihnen tanzt eine Frau wunderschön. Sie erzählt die Geschichte aus der Perspektive einer gequälten Mutter, die gebiert, umarmt, kämpft, unterliegt, wieder aufsteht und sich gegen den Wind und sonst noch was stemmt.

Wachsen langsam empor

Währenddessen winden und drehen sich die Menschenbündel unten, wachsen langsam empor zu einem Gruppenbild, das immer wieder auf- und abbrandet. Dazu Rio-Reiser-Musik aus dem Spätwerk »Himmel &Hölle« (1995): »Da war ein Licht am Anfang der Welt, ein Strahl, der die dunkelste Ecke erhellt, der in die finsterste Ecke fällt…« Im nächsten Akt haben sich die Menschen mit schwarzer Farbe beschmutzt, Kriege und Gewalt breiten sich aus, dazu wird »Der Traum ist aus« von Ton Steine Scherben gespielt: »Ich hab geträumt, / der Winter wär vorbei / du warst hier und wir war’n frei / und die Morgensonne schien.« Aber es war nur ein Traum. Den Zuschauern wird sinnlich vorgeführt, daß man für seine Zukunft immer wird kämpfen müssen. Die Vielfalt der Bilder, die in allen folgenden Szenen, einzig nur durch Bewegung hergestellt und hier gefunden wurde, ist großartig, es packt einen von der ersten bis zur letzten Minute und man versteht den Inhalt in allem Einzelheiten, nur durch die den Gesang begleitenden Tanz-Bewegungen, die mal wie schreien sind, mal wie ein Zweigespräch, mal Wut, mal Hass, mal Zuneigung und füreinander Einstehen. Auch wegducken, geschlagen werden kommt vor, die aus der Gruppe wegstreben, werden wie an unsichtbaren Bändern gehalten, einmal spaltet sich die Gruppe viele, viele Male, die eben noch zusammengehen, fallen in entgegengesetzte Richtungen ab. Mal knien alle oder knicken immerzu ein, sie kriechen davon oder in das Bild rein, eine ganze Menschheitsgeschichte rollt sich ab, mit all ihren Freuden, ihrem Weh, ihren immer wieder in neuem Gewand auftretenden Unterdrückern.

Jeder Schritt eine Veränderung

Das Bühnenbild verzichtet komplett auf Historisierung und Dokumentarisches. Die Menschheitsentwicklung wird im Einzelnen als revolutionär verstanden, sie entwickelt sich durch Lösen ihrer Widersprüche, immer schon. Es geht gegen Vereinzelung, inszeniert in aufeinander zustrebenden und auseinander brechenden kleineren und größeren Gruppen und um den Mut zum Glauben an eine Veränderungsmöglichkeit bestehender Zustände um uns herum, im Kleinen wie im Großen, dass die Welt sich schon durch jeden Schitt, den man darin tut, verändert

Stefan Hahns Tanz mit einem jungen Schüler: Beispiel für Simultankraft

Rechts und links der Bühne stehen Gerüste, da klettern manche und auch manchmal viele rauf, nach hinten öffnet sich das Bühnenbild, das von einem Vorhang leicht bedeckte Orchester. Sehr imposant wie Stefan Hahn selbst zusammen mit einem jungen Schüler tanzt, ein Tanz des Kampfes und der Fairneß, von Abstoßung und Anziehung. Ein exemplarisches Beispiel für simultan weitergegebene Kraft. Später erklingt der »Arbeitslosenreggae« von Ton Steine Scherben (1976), zunächst nur auf eine Person bezogen, später mit immer mehr Leuten angestimmt, sehr aktuell im Stralsund von heute, wo in manchen Stadtvierteln ungeschönt 60 Prozent Arbeitslosigkeit und Niedrigstverdienst unter Harz IV herrscht.

Kaufrausch und seine Überwindung

Am Ende tritt eine Gruppe in den vier Farben: weiß, schwarz, grau und rot auf, sie spielen im Heute, sie verbinden alle vorigen Gruppen miteinander, zunächst sind sie noch Marionetten, des Fernsehens, der Werbung, der auf sie eindröhnenden Parolen aus aus dem Netz, dann aber wollen sie nicht mehr, unmerklich geschieht das, wunderschöne Bilder, sie verweigern und sie empören sich. Sie wollen sich nicht mehr alles gefallen lassen. Die Choreografie dieser Szenen ist sehr gelungen, und die werden durchweg super gesungen. »Nimm dir das Leben« Pause. »Nimm dir das Leben, das dir zusteht!«

Nächste Vorstellungen: 20.6. in Stralsund (Theater Vorpommern) und 22.6., 23.6. in Greifswald

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