Der Käfer im Heimathafen Neukölln

 17.9.13 / jw / Feuilleton

Die Verwandlung von Kafka als ein Stück aufzuführen, dass in der Familienküche spielt und aus Sicht der anderen erzählt wird, ist eine gute Idee, die kürzlich im Heimathafen Neukölln Premiere feierte.

Das Mysterium des Käfers wird dabei als eine durchaus nachvollziehbare Verrücktheit, mit Burnout, Halluzinationen, Verwahrlosungstendenzen und am Ende mit einem Messidasein dargestellt und als eine subtile Verweigerungsreaktion gegen Autoritätszwänge entschlüsselt. Das macht das Stück für heutige Zuschauer interessant.

In Zeiten zunehmender Verelendung wirksam

Die Aufführung des Stücks „Der Käfer“ in der Regie von Andreas Merz am Heimathafen Neukölln ist der beste Beweis dafür, dass Kafkas Texte über die Jahrhunderte ihre Wirksamkeit noch steigern können, aber auch, dass sie ihre große Chance in Zeiten zunehmender Verelendung ehemals noch halbwegs gut situierter Gesellschaftsschichten haben, die mühevoll versuchen, den Schein aufrecht zu erhalten, während ihnen das Wasser schon am Halse steht.

Alkoholisch-donnerndes Familiengeschrei

Im Ensemble von Merz haben sich zu diesem Zweck ideale Spieler zusammengefunden. Sogar ein Hund, Coco, gehört dazu, der das mal heiser-jammernde, mal alkoholisch-donnernde Familiengeschrei, eine Mischung aus asthmatischer Hysterie, und alkoholisch-polternder Beschuldigungtiraden, wunderbar gelassen nimmt.  Kostüm und Spielart macht aus den Spielern Neuköllner Anwohner, zwischen Subproletariat und Kleinbürgerei. Die Mutter, mit hochtupierter Wasserstoff-Haarsprayfrisur über einem ältlich-geschminkten Gesicht, ist immer bedürftig, muss immer von der Tochter geführt werden, liebt ihren Sohn Gregor auf eine kitschig-besitzergreifend-vorwurfsvolle Weise, der dazugehörende Vater ist groß, steif, cholerisch. Gregor, falls er mal aus seinem hinter der Küche versteckten „Kinder“- Zimmer hinaustritt, im Schlafanzug, verwahrlostem Haar, Beulen und Versteifungen an Schultern und Rücken, spielt sehr gekonnt gegenüber Mutter und Tochter mit dem hintergründigen Witz der „Verrückten“, duckt sich aber flatternd, Entschuldigungen ausstoßend vor der vernichtenden Verbalgewalt des Vaters. Dazu zitiert er aus dem gelben Reklamheftchen: „Brief an den Vater“ (Kafka), doch das interessiert den Vater nicht, ihn interessiert nur, wie er sich (der Vater war als Kind Sohn eines Fleischhauers) für die Familie krummgelegt hat und sie, insbesondere sein „Herr Sohn“ ihm das nicht danke.

Noch nach 100 Jahren ersteht der Typus des Kafka´schen Vaters jeden Tag neu aus den sozialen Verhältnissen

Beklemmend wie das Original, in dieser Inszenierung auf Neuköllner Prekariats-Verhältnisse adaptiert, hätte Kafka hier sicher zugestimmt. Nur hätte er niemals geahnt, dass selbst nach 100 Jahren noch der Typus seines Vaters jeden Tag aus den sozialen Verhältnissen neu ersteht, ebenso wie die sinnentleert-entfremdete Arbeit, die Menschen über die Maßen knechtet und niederdrückt. Dass die Verwandlung in einen „dreckigen“ Käfer dagegen opponiert und eine Art von Widerstandshandlung ist, wird gut deutlich. Das Ende, dass Vater, Mutter, Tochter sich nun abfinden mit ihrer proletarischen Existenz, und nun als Fahrer, Wäscherin, Verkäuferin plötzlich zufriedener als vorher sind, zeugt von einem sehr guten interpretativen Verständnis des Kafka´schen Werkes. Denn in der Tat sah dieser seine eigene intellektuelle Ausbildung (er war promovierter Jurist) eher als ein Hindernis für seine Familie, die durch die daraus hervorgehenden Erwartungen an seine Karriere, eine „Rettung“ ihrer eigenen klein- und aufstiegsbürgerlich geprägten Existenz erhofften.

Am Ende ausgekehrt

Heute, in Zeiten von wiederaufgekommener Massenarbeitslosigkeit, mit gleichzeitiger Arbeitshetze für die, die noch in Arbeit sind, kann man diesen sozialpsycologischen Familienproblemen häufig begegnen. Ein modernes Stück nicht ohne Humor. Durch die vielen karikierenden Anteile witzig und leicht, trotz bitterem Gehalt, was Gregor betrifft, der schließlich in der sich selbst zerstörenden Verweigerungshandlung messihaft erstarrt und „ausgekehrt“ wird.

Mit Alexander Ebeert, Bärbel Bolle, Sascha Ö. Soydan und Frank Büttner
Musik: Felix Raffel
Regie: Andreas Merz
Kostüm und Bühne: José Luna
Dramaturgie: Julia von Schacky

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